Es war ein Bild, durchaus ungewohnt. Da stand Mauro Caviezel zuoberst auf dem Podest. Dort, wo er noch nie zuvor im Weltcup gestanden hatte. Strahlend. Die Faust nach oben. In der anderen Hand eine Kristallkugel, die ihm nicht gehört. Weil die Organisatoren vom frühzeitigen Saisonende überrascht wurden, musste die Trophäe von Henrik Kristoffersen aushelfen. Doch das konnte dem Pfäffiker egal sein. Weil der letzte Super-G der Saison in Kvitfjell dem Wetter zum Opfer gefallen war, stand der 31-jährige Höfner als Sieger der Disziplinenwertung fest. 3., 5., 4., 4., 2., 2. – kein anderer Fahrer war im Super-G derart konstant. «Es ist ein Traum, der in Erfüllung geht», sagte Caviezel unmittelbar nach seinem Triumph – auch weil er weit unten durch musste, um ganz oben anzukommen.
mit Mauro Caviezel
sprach Roman Michel
Mauro Caviezel, welche Bedeutung hat der Sieg in der Super-G-Disziplinenwertung für Sie?
Für mich ist ein grosser Traum, ein grosses Ziel in Erfüllung gegangen. Eine Kristallkugel zu gewinnen, ist etwas vom Grössten, das man im Skisport erreichen kann. Es dauerte ein paar Tage, bis ich das Ganze realisieren konnte.
Die beiden letzten Super-G-Rennen in Kvitfjell wegen des Wetters und Cortina wegen des Coronavirus mussten abgesagt werden. Wie haben Sie diese Situation erlebt?
Die Situation war für alle sehr speziell. Bereits in Hinterstoder (Ende Februar, die Red.) wussten wir, dass aufgrund des Coronavirus das Weltcup-Finale in Italien auf der Kippe steht. Mit Kvitfjell haben wir aber fest gerechnet. Umso wichtiger war, dass ich im Rennen zuvor die Führung in der Disziplinenwertung übernehmen konnte.
Wie haben Sie die Zeit der Ungewissheit mit dem Coronavirus erlebt, das den Skisport in den letzten Tagen vor dem Saisonende beschäftigte?
Natürlich war das ein Thema zwischen den Athleten. Aber als Sportler bist du von Grund auf etwas vorsichtiger. Gerade während der Saison. Bei uns ist es normal, dass jemand isoliert wird, wenn er krank ist. Neu war hingegen die Ungewissheit. Es gab viele Gerüchte, viele Meldungen. Am nächsten Tag hatte sich der Wind dann wieder um 180 Grad gedreht. Als Skifahrer lebst du während der Saison etwas abgeschottet. Da war alles etwas weiter weg. Jetzt, wo ich zu Hause bin, bekomme ich mehr mit. Sportlich gesehen hatten wir das Glück, dass wir uns bereits am Ende der Saison befanden und nicht mittendrin oder erst am Anfang.
Drei Punkte betrug Ihr Vorsprung in der Super-G-Wertung auf Vincent Kriechmayr. Waren Sie froh, wurden die letzten beiden Rennen abgesagt?
Als Rennfahrer suchst du immer den Kampf auf der Piste. Es wäre schön gewesen, die Entscheidung um die Kugel auszufahren. Gerade, weil der Kampf an der Spitze so eng war. Ich fühlte mich extrem gut, war voll im Tunnel. Die Situation in Kvitfjell war wirklich speziell. Bis zur improvisierten Preisübergabe im Zielbereich rechnete ich immer noch damit, dass das Rennen nun losgehen würde. Ich war voll im Rennfieber.
Wie haben Sie erfahren, dass das Rennen abgesagt wird?
Ich war in unserer Wohnung, als ich eine SMS bekam. Es dauerte keine zwei Sekunden, da stürmten mein Bruder Gino, Thomas Tumler und Marco Odermatt ins Zimmer. Für mich war es extrem schön, die Freude bei meinen ‹Konkurrenten› zu sehen.
Ihre grosse Stärke in dieser Saison war die Konstanz. Woher kommt diese?
Da sind viele Puzzleteile, die im richtigen Moment zusammenpassen müssen. Ich war schon im Jahr zuvor ziemlich konstant, man lernt aber von Saison zu Saison dazu. Du musst immer an deiner Grenze fahren, aber auch die Balance finden, um nicht darüber zu geraten. Das ist ein Spiel zwischen Lockerheit und Aggressivität.
Sie sind mittlerweile 31 Jahre alt. Welche Rolle spielt die Erfahrung?
Die Routine hilft dir in gewissen Si-tuationen, die Ruhe zu bewahren. Neben und auf der Piste. Als junger Athlet packst du schneller mal die Brechstange aus, wenn dir etwas nicht läuft. Meist machst du dann noch mehr Fehler. Gerade im Super-G sind die Umstände speziell: Du hast kein Training, nur eine Besichtigung. Da musst du auf deinen Instinkt hören und dich auf das Gefühl verlassen können. In diesem Bereich spielt die Erfahrung eine wichtige Rolle.
Sie waren in Ihrer Karriere oft verletzt. Denken Sie im Triumph an diese Phasen zurück?
Definitiv. Ich glaube, meine ganze Geschichte macht diese Kugel noch spezieller. Ich habe während meiner Karriere schon so viele Emotionen erlebt – positive wie auch negative. Aus all diesen Situationen konnte ich etwas mitnehmen. Dieser Weg hat mich stärker gemacht. Ich bin geduldiger, schaue gewisse Dinge heute anders an.
Gab es Momente, in denen Sie zweifelten, je wieder Ski fahren zu können?
Es gab Ärzte, die mir sagten, dass es nicht mehr weitergehe. Ich selbst habe den Glauben in mich aber nie aufgegeben. Ich habe nie gehadert. Diese positive Grundhaltung hat sich ausbezahlt.
Zur perfekten Saison fehlte nur Ihr erster Weltcupsieg.
Je stärker ich fuhr, desto häufiger wurde ich darauf angesprochen. Ich glaube, mich nervt es am wenigsten von allen (lacht). Natürlich ärgerst du dich im ersten Moment, wenn du den Sieg erneut um ein paar Hundertstelsekunden verpasst hast. Aber es ist alles andere als selbstverständlich, dass ich während der ganzen Saison stets in die Top 5 gefahren bin. Dessen war ich mir immer bewusst. Das Warten auf den ersten Sieg ist daher eher Motivation als Frust.
Sie sind der erste Schweizer Super-G-Disziplinensieger seit Didier Cuche vor neun Jahren. Ist diese Marke bei Ihnen im Kopf?
Natürlich bekommst du solche Dinge mit und wirst darauf angesprochen. Als Fahrer selbst befasst du dich aber weniger mit solchen Zahlen.
Die Super-G-Kugel ist nicht der einzige Erfolg. Sie sind auch Teil der Schweizer Equipe, die erstmals seit 32 Jahren wieder die Nationenwertung gewinnen konnte.
Das zeigt, wie konstant wir über alle Teams waren. Es ist ein schönes Zeichen, dass wir die Qualität haben, in jeder Disziplin aufs Podest fahren zu können. Und das nicht nur mit einem Athleten. Auch wenn sich gegen Ende der Saison praktisch alles nur noch um die Nationenwertung drehte: Als einzelner Athlet stehen die persönlichen Ziele im Vordergrund. Die Nationenwertung ist die Summe von allem.
Haben Sie schon einen Platz für Ihre Kugel?
Ich werde sicher einen speziellen Ort finden. Aber ich habe Sie ja erst vor acht Tagen während des «Sportpanoramas» erhalten. Zuvor wusste ich nicht einmal, wie gross sie ist (lacht).
Grosse Festivitäten liegen aufgrund der aktuellen Situation wohl nicht drin.
Während der Saison bist du viel unterwegs. Darum geniesse ich jetzt erst einmal ein paar Tage bei der Familie. Eigentlich würden nach der Saison noch Trainings und Skitests anstehen. Wir schauen von Tag zu Tag, was möglich ist.