T.G.* ist im Iran geboren und aufgewachsen, lebt heute jedoch nicht mehr in seinem Heimatland. Mit seinen im Iran lebenden Angehörigen pflegt er einen regen Kontakt. Erst vor wenigen Wochen besuchte er seine Familie. Auf expliziten Wunsch verzichtet der «Bock» auf weitergehende Angaben über den Interviewpartner, denn er bekennt sich während des Gespräches als Regimegegner und könnte damit sich und seine Familie in Gefahr bringen. Im Interview gibt er pikante Informationen preis.
Religiöse Gesetzgebung
Der Islam ist nicht nur einfach die Staatsreligion in der Islamischen Republik Iran. Auch die Regeln und Gesetze des Landes stützen sich auf diese Glaubensrichtung. Mit dem strengen islamischen Rechtssystem, der Scharia, gehen harte Strafen einher. Menschen, die während des Ramadans in der Öffentlichkeit essen oder trinken, müssen beispielsweise mit Gefängnisstrafen und Peitschenhieben rechnen. Der Konsum von Alkohol wird ebenfalls mit Peitschenhieben bestraft: Wiederholungstätern droht die Todesstrafe.
Die Scharia indes ist kein universelles Schriftwerk, welches bei rechtlichen Angelegenheiten zu Rate gezogen werden kann. Vielmehr ist es eine grosse Sammlung an Schriften aus dem Koran und Überlieferungen. Für Mädchen und Frauen gelten strengere Gesetze. Sie seien in vielen Rechtsbereichen stark benachteiligt und werden systematisch entrechtet. Das Erbe der Frauen beispielsweise sei halb so hoch wie das der Männer. Auch Aussagen von Frauen vor Gericht seien nur halb so viel wert wie die von Männern. Das islamische Rechtssystem schliesst eine Gleichberechtigung entschieden aus. Wer in der Islamischen Republik Iran Gleichstellung einfordere, werde von der Regierung bedroht, willkürlich ins Gefängnis gesteckt, misshandelt und gefoltert.
Kein Einzelfall
Seit der Revolution 1979 ist der Iran eine islamische Republik. Seither gab es immer wieder landesweite Proteste für Gleichberechtigung, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Viele solcher Proteste blieben der internationalen Öffentlichkeit verborgen. Nicht so die Ereignisse rund um den Tod der kürzlich verstorbenen Mahsa Amini. «Das ist bei weitem kein Einzelfall», erzählt T.G. im Interview und ergänzt «Ich könnte zahlreiche weitere Gräueltaten beschreiben und die dafür notwendigen Beweise liefern».
Die 22-jährige Mahsa Amini wurde vergangenen Monat in Teheran von der Sittenpolizei festgenommen, weil sie den Hidschab, das von Frauen obligatorisch zu tragende Kopftuch, nicht ordnungsgemäss anhatte. Wenige Stunden nach ihrer Festnahme wurde sie von der Polizeistation in ein Krankenhaus gebracht. Die Polizei hatte angegeben, dass die Inhaftierte einen Herzinfarkt und einen Schlaganfall erlitten habe. In mehreren sozialen Medien war jedoch zu entnehmen, dass die Polizisten auf Mahsa Aminis Kopf eingeprügelt hätten, nachdem sie sich gegen ihre Festnahme gewehrt habe. Den Stein ins Rollen brachte ein Twitter-Eintrag der iranischen Journalistin Niloufar Hamedi, die seither im Gefängnis ist. Bevor Mahsa Amini starb, lag sie im Krankenhaus drei Tage im Koma. Aufnahmen einer Computer-Tomographie ihres Kopfes indes sollen Blutungen, ein Hirnödem und einen Knochenbruch aufweisen. Berichten zufolge sehe die vom Staat kontrollierte Gerichtsmedizin jedoch nicht Schläge als Todesursache. Vielmehr soll in einem veröffentlichten Bericht des Regimes erklärt worden sein, dass die Verstorbene schon seit ihrer Kindheit an einer Schilddrüsenkrankheit gelitten habe: Diese Vorerkrankung habe zum Tod geführt. Eine solche gesundheitliche Erkrankung hat Mahsa Aminis Familie jedoch mehrmals öffentlich zurückgewiesen. Daraufhin habe die iranische Justiz der Trauerfamilie vorgeworfen, die Gesetze zu missachten und mit dem Fall politische Propaganda gegen das iranische System machen zu wollen.
Macht und Propaganda
Der Fall von Mahsa Amini hat weltweit zu Betroffenheit, Empörung und Trauer geführt. In über 80 Städten weltweit gingen Iranerinnen und Iraner auf die Strasse, um gegen das Regime in ihrem Land zu demonstrieren, um auf die Missbräuche aufmerksam zu machen und um den Wechsel des theokratischen Regimes in eine säkulare Demokratie zu fordern. Auch in Zürich, Genf und Bern kam es zu Kundgebungen.
«Die Sittenpolizei wird mit der Auflage auf die Strassen geschickt, eine gewisse Anzahl Frauen zu kontrollieren und zu verhaften. Wird diese Zahl kurz vor Feierabend bei Frauen, die sich offen gegen die islamische Kleiderordnung gestellt haben, nicht erreicht, wird willkürlich vorgegangen. Jede Person kann dann im Fokus stehen, ob sie nun etwas Unrechtmässiges gemacht hat oder nicht. Sogar Frauen mit Hidschab können inhaftiert werden, wenn ihre Kopfbedeckung nicht vollständig den vom Regime vorgeschriebenen Anforderungen entspricht. So, wie es bei Mahsa Amini der Fall war», erklärt T.G. die vorherrschenden repressiven Zustände. «Ich kenne Familien von Opfern, die gezwungen wurden, öffentlich eine gelogene Todesursache zu erzählen. Dabei starben diese Opfer durch Folterungen in den Gefängnissen. Damit das Umfeld der Opfer der Polizei nicht auf die Schliche kommen kann, werden die Leichname manchmal nicht einmal herausgegeben. Die Familien beklagen einen Todesfall, werden gezwungen zu lügen und erhalten nicht einmal die Möglichkeit, das verstorbene Familienmitglied zu beerdigen».
Willkür an der Tagesordnung
«Die Islamische Republik Iran ist ein höchst korruptes Land, welches viele Leben von unschuldigen Menschen und deren Familien vernichtet und dann versucht, diese Taten zu vertuschen. Mit solchen willkürlichen Ereignissen soll der Bevölkerung die Macht demonstriert werden. Dass jetzt auf der ganzen Welt auf dieses Ereignis gezeigt wird, ist sehr hilfreich: so traurig der Hintergrund auch ist». T.G. schöpft dennoch Hoffnung, insbesondere weil die Geschehnisse rund um Tod der jungen Iranerin zu weltweiten Protesten geführt haben. «In meinem Land läuft so vieles verkehrt. Als 2019 wegen massiver Erhöhungen der Benzinpreise Proteste ausbrachen, kamen nur wenige Informationen an die Öffentlichkeit. Man wollte den Ball flach halten und kein Aufsehen erregen. Durch das brutale Vorgehen der Polizei starben damals über 1500 Menschen. Entweder während der Demonstrationen oder danach in den Gefängnissen». In heiklen Situationen werde das Internet abgestellt, damit die Menschen nicht kommunizieren und Proteste organisieren können. Indem das Internet gekappt wird, könne das Regime die volle Kontrolle über die Kommunikationsinhalte haben. Die einzige Informationsquelle sei dann das vom Staat kontrollierte Fernsehen.
In der Islamischen Republik Iran gibt es weder Meinungs- noch Pressefreiheit. Ein Dorn im Auge seien auch die rund zehn Prozent Iranerinnen und Iraner, die im Ausland leben. Nicht zuletzt auch, weil sie im Ausland schlecht kontrolliert werden können.
Mögliche Druckmassnahmen
T.G. sieht verschiedene Möglichkeiten, wie sein Land unterstützt werden könnte. Er spricht von Sanktionen und vom Rückzug westlicher Diplomaten aus der Islamischen Republik Iran. «Die meisten hochrangigen Beamten der Islamischen Republik haben ihre Kinder in den Westen geschickt. Während dem eigenen Volk die Grundrechte vorenthalten werden, geniessen ihre Kinder im Westen alle möglichen Freiheiten. Diese Leute agieren manchmal stellvertretend für ihre Eltern und betreiben Geldwäsche durch Briefkastenfirmen in Europa und Nordamerika. Sie sind auch stark in Denkfabriken aktiv und versuchen, Politiker und die Öffentlichkeit durch Propaganda und Desinformationskampagnen dazu zu bringen, die Augen vor den Vorgängen im Iran zu verschliessen». Weiter äussert sich T.G. über den Sitz seines Heimatlandes in der UN-Frauenrechtskommission. «Es ist eine Beleidigung für alle Frauen auf der ganzen Welt, dass das frauenfeindlichste Regime der Welt, das derzeit Frauen missbraucht, vergewaltigt und ermordet, einen Sitz in einer Kommission für Frauenrechte hat. Dieser Sitz sollte weggenommen werden».
(* Name der Redaktion bekannt)