Home Region Sport Agenda Schweiz/Ausland Magazin
Region
14.11.2021

Als eine Wildsau ihr Unwesen trieb

Der Ratsherr Emil Lienert (links) erlegte am 11. November 1921 am Bolzberg in Einsiedeln ein Wildschwein. Mit dabei war damals sein Jagdkollege Hans Thorner.
Der Ratsherr Emil Lienert (links) erlegte am 11. November 1921 am Bolzberg in Einsiedeln ein Wildschwein. Mit dabei war damals sein Jagdkollege Hans Thorner. Bild: zvg
Hundert Jahre nach dem letzten Abschuss tauchen auch in der Region Einsiedeln wieder Wildschweine auf.

Wildschweine sind überall in der Schweiz zu finden: Sie erobern zudem ständig höher gelegene Gebiete. Kein Wunder, sind in den letzten Jahren hierzulande Wildschweine gesichtet worden, die vermutlich von der March her in den Bezirk Einsiedeln eingedrungen sind.

Historisches ist aus Einsiedeln belegt: Am 11. November 1921 erlegte Ratsherr Emil Lienert zum Schöngarn eine Wildsau im Wyten Bödeli am Bolzberg. Sein Enkel Hans Oechslin aus Einsiedeln erinnert sich an die dramatischen Geschehnisse, die sich vor exakt 100 Jahren im Klosterdorf abspielten.

«Eine Wildsau kam letzten Freitag, nachdem die Hunde etwas rebellisch geworden, vor das Rohr eines Jägers», berichtete der Einsiedler Anzeiger am 16. November 1921: «In etwas kitzliger Situation befand er sich in seinem unerwarteten Zusammentreffen mit dem schon so oft signalisierten Wildschwein, das in seinen langen schwarzen Haaren mehr einem Bären glich.» In einem mit «Jägerglück» betitelten Artikel des Einsiedler Anzeigers heisst es weiter: «Aber ein richtiger Jägersmann forcht sich nicht. Auf zwanzig Meter Entfernung erhielt das in unserer Gegend so seltene Tier eine Schrotladung in die Lunge.»

Vom Holzhändler zum Bezirksammann

Der glückliche Erleger der Wildsau ist Herr Ratsherr Emil Lienert zum Schöngarn. Neunzig Jahre seien verflossen, seitdem im Hochtal Wildschweine erlegt worden seien, schreibt der Einsiedler Anzeiger. Emil Lienert (1880 bis 1952) heisst also der Schütze, der vor 100 Jahren im Wyten Bödeli am Bolzberg ins Schwarze getroffen hatte. Den Einsiedler Zeitgenossen war der damals 41-jährige Holzhändler wohlbekannt: Er war Ratsherr und wurde schliesslich im Jahr 1935 zum Bezirksammann gewählt. Hans Thorner, auch er ein Holzhändler, hat Emil Lienert damals auf der Jagd begleitet und ihm geholfen, die 75 Kilogramm schwere Bache abzutransportieren.

«Hin und wieder hat die Wildsau einen Zahn verloren»

Unterdessen hängt der ausgestopfte Kopf des Wildschweins im Haus von Hans Oechslin in Einsiedeln: Vor 100 Jahren hat ein Zürcher Tierpräparator das Tier ausgestopft. Im letzten Jahr wurde der Kopf bei einem Tierpräparator aus Giswil saniert: «Nach einem Jahrhundert war eine Sanierung nötig », erzählt der Enkel des glücklichen Jagdschützen Emil Lienert: «Der Sau ist der eine oder andere Zahn ausgefallen, und ihr Fell hat viel Staub angesetzt. Hans Oechslin ist im Kaffeehaus Dreiherzen im Klosterdorf aufgewachsen: Und ebendort ist die Wildsau an der Wand gehangen. «Ich habe viele Erinnerungen an das Wildschwein. Und so lag es mir am Herzen, dass ich das Tier in unser neues Haus mitnehmen konnte», schildert der 66-jährige Einsiedler: «Wir haben als Kinder viel gespielt mit dem Wildschwein. Eine Mutprobe bestand darin, eine Hand in das Maul der Sau zu strecken.» Offensichtlich ist das Wildschwein ein freundliches Wesen gewesen: Jedenfalls hat das Tier niemals in des Buben Hand zugeschnappt.

«Selber ein Wildschwein zu schiessen, kommt für mich nicht in Frage. Eine Wildsau zu verspeisen hingegen schon: Sie schmeckt schliesslich vorzüglich», sagt Oechslin. Aus erster Hand weiss der Enkel wenig über die Umstände der damaligen Jagd auf das Wildschwein: Hans Oechslin ist nach dem Tod seines Grossvaters geboren worden. Anzunehmen sei, dass das Wildschwein aus dem Raum Rothenthurm in Richtung Einsiedeln unterwegs gewesen war, als es vor das Gewehr des Grossvaters geraten ist.

Wie zwei Wildsauen bei der Egger Badi auftauchten

Aber aufgepasst: Das Wildschwein ist auch in Einsiedeln in dieser Zeit bereits wieder aufgetaucht. «Meine Frau hat vor etwa fünf Jahren beim Spazieren in einem Wäldli nahe bei der Egger Badi zwei Wildschweine gesichtet », führt Oechslin aus. Sie sind also da – nach 100 Jahren. Der pensionierte Versicherungsfachmann nimmt an, dass die Wildsau von der March her in den Bezirk Einsiedeln eingedrungen ist. Schliesslich ist das Linthgebiet bekannt für Maisanbau: Bauern können dort ein Lied davon singen, wie Wildschweine ihre Äcker durchfurchen.

Allerdings will Hans Oechslin den Ball flach halten und keinesfalls Angst und Schrecken verbreiten: «Bei der Wildsau, die meine Frau entdeckt hat, dürfte es sich um einen Einzelfall, ein verirrtes Tier, handeln.» Denn die Autobahn A3 bedeute für die Wildschweine ein nur schwer zu querendes Hindernis, einen Riegel par excellence.

Magnus Leibundgut, Einsiedler Anzeiger