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Siebnen
09.03.2021

«Eine Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit allen Bürgern umgeht»

Liliane Kistler Fegert, Vorsteherin des Amts für Justizvollzug, zum Thema Rückfallgefahr: «Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, aber es geht um eine möglichst sorgfältige Einschätzung des Einzelfalls.»
Liliane Kistler Fegert, Vorsteherin des Amts für Justizvollzug, zum Thema Rückfallgefahr: «Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, aber es geht um eine möglichst sorgfältige Einschätzung des Einzelfalls.» Bild: Andreas Seeholzer
Seit vergangenem Mai ist die Siebnerin Liliane Kistler Fegert Vorsteherin des Amts für Justizvollzug im Kanton Schwyz. Quarantäne und ein Gefängnisaufenthalt seien schon zwei verschiedene Paar Schuhe, so die Juristin.

Seit gut neun Monaten stehen Sie dem Amt für Justizvollzug vor. Wie haben Sie sich eingelebt?

Für mich ist es mein Traumjob, bei dem ich meine Fähigkeiten und langjährige Berufserfahrung voll einbringen kann. Die Stelle ist vielfältig, gefällt mir sehr, und zudem kann ich in meinem Heimatkanton arbeiten. Den direkten Kontakt zu meinem Vorgesetzten und den anderen Amtsleitungen schätze ich sehr. Die Zusammenarbeit mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten ist unkompliziert und angenehm. Vor allem macht die Arbeit mit meinem mich tatkräftig unterstützenden und engagierten Team viel Spass. 

Die Resozialisierung von Delinquenten ist teuer. Stimmt der Ansatz?

Sicherheit im Strafvollzug kostet sehr viel. Wie viel Geld dafür ausgegeben werden soll, ist eine Frage der Anschauung, wie wir uns als Gesellschaft geben wollen. Meines Wissens gibt es einen Fall «Carlos» mit entsprechend kostenaufwendigem Setting zum Beispiel in Italien oder Frankreich nicht. Ich möchte aber auch keine Zustände, wie es in den Institutionen im Ausland teilweise üblich ist. Eine Gesellschaft misst sich auch daran, wie sie mit allen Bürgern umgeht.

Ihr Mann, Jörg Michael Fegert, ist Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut, ein bekannter Kinderschützer und Traumaforscher. Sie arbeiten mit den Tätern. Sind Sie interessiert an deren Psychologie?

Die interessiert mich sehr: Ich habe in einem dreijährigen Nachdiplomstudiengang an der Universität Zürich die Forensische Fachqualifikation «Prognostik» als eine der ersten Absolventinnen erlangt. Dabei geht es um den rechtlichen Umgang mit Personen mit psychiatrischem Störungsbild, die Einschätzung der Gefährlichkeit von Straftätern, aber auch darum, Gutachten zu schreiben und Therapien im Strafvollzug zu beurteilen. 

Das kommt Ihnen bei Ihrer aktuellen Tätigkeit zugute

Dieses Wissen nützt mir, zumal ich ja die heikleren Fälle zusammen mit meiner Strafvollzugsleiterin auch selber betreue. 

Können Sie das ausführen?

Im Gefängnis haben wir zunehmend psychisch hochauffällige Insassen, zum Beispiel Personen mit Suchtproblematik oder Schizophrenie. Es ist eine Gratwanderung, wie der
Gefängnisleiter mit seiner langjährigen Erfahrung die daraus im Gefängnisbetrieb resultierenden Probleme schildert. Dann geht es darum, einzuschätzen, wie mit solchen Personen in kritischen gesundheitlichen Zuständen umgegangen werden muss oder ob sie wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in eine psychiatrische Klinik verlegt werden müssen.  

Sie sagen, es gebe mehr psychisch hochauffällige Insassen …

Die Zahl hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dies führt dazu, dass das Betreuungspersonal immer mehr gefordert wird und sehr gut geschult sein muss. Wir haben Insassen mit selbstverletzendem Verhalten, die mit dem Kopf gegen die Zellenwand rennen, sodass die Wand rot vor Blut ist. Welche Schutzmassnahmen ergreift man da, ohne gleichzeitig solches Fehlverhalten zu belohnen, das sind schwierige Entscheidungen. 

«Wenn man sich strikte an die Quarantäneregeln hält, kann man nachvollziehen, wie es Gefangenen geht.»
Liliane Kistler

Warum gibt es mehr psychische Störungen?

Vor allem bei jungen Menschen ist der Cannabiskonsum sicher schädlich und kann Psychosen auslösen. Wir sehen das häufig bei Jugendlichen mit schweren Drogen- oder Medikamentenabhängigkeiten. Bei manchen Personen mit Persönlichkeitsstörungen tritt fortschreitend eine Verwahrlosung und Randständigkeit ein, wodurch die psychische Gesundheit leidet. 

Haben Sie schon einmal einen falschen Entscheid getroffen?

Eigentlich nein. Aber was heisst falsch? Wir haben zum Beispiel einer verwahrten Person in Zürich in kleinen Schritten mehr Freiheiten gewährt. Nach drei Jahren begann sie sich im Urlaub anstatt mit Familienmitgliedern mit Prostituierten zu treffen. Es kam zu einer Auseinandersetzung mit Tätlichkeiten, und dies führte zu seiner sofortigen Rückversetzung in den geschlossenen Vollzug. Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, aber es geht um eine möglichst sorgfältige Einschätzung des Einzelfalls.

Durch die Covid-19-Pandemie fühlen wir uns eingesperrt. Wo liegen die Unterschiede zu einem wirklich im Gefängnis Inhaftierten?

Wer aktuell ins Gefängnis kommt, muss für sieben Tage in Quarantäne, also in Einzelhaft und ist damit doppelt eingesperrt. Die Insassen bekommen die Pandemie auch zu spüren, indem die Urlaubs- und Besuchsmöglichkeiten eingeschränkt werden müssen. Zudem haben wir aufgrund des Lockdowns weniger Arbeit für die Insassen. Sie sitzen nun in der Zeit, in der sie sonst gearbeitet haben, vermehrt in der Zelle.

Gibt es Netflix in der Zelle?

Nein, Netflix sicher nicht. Die Gefangenen haben Fernsehen mit ausgewählten Programmen, aber kein Internet und kein Mobilfunktelefon. Die Handys werden ihnen beim Eintritt abgenommen, und die Insassen müssen kontrolliert das konventionelle Telefon benutzen.

Eine Quarantäne im Zivilleben ist also nicht vergleichbar mit einer Inhaftierung?

Wenn man sich strikte an die Quarantäneregeln hält, kann man vielleicht nachfühlen, wie es Gefangenen geht. Aber wie vorhin gesagt, sind die Möglichkeiten der Unterhaltung im Gefängnis sehr eingeschränkt, und die Perspektive ist eine andere. Die psychische Belastung ist im Gefängnis höher, da von aussen abgeschlossen wird und in Einzelfällen für sehr lange Zeit. Die längste Strafe, die ein Verurteilter des Kantons Schwyz aktuell in einer grösseren Anstalt absitzen muss, beträgt 9,5 Jahre. 

Wie viele Personen sitzen zurzeit ein?

Wir haben 38 Plätze. Schon bei der ersten Welle mussten wir die Belegung herunterfahren, denn wir müssen -genügend Zellen freihalten, um die Neueintritte vom Gruppenvollzug zu trennen. Aktuell sind durchschnittlich 20 Plätze besetzt. 

Andreas Seeholzer, BdU