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Freienbach
31.10.2020

«Das Sterben kann man nicht erklären»

Bild: hp
Am 2. November feiern wir den katholischen Feiertag Allerseelen. «Der Sterbeprozess ist etwas sehr Wichtiges, auch für die Angehörigen», sagt Schwester Jolenda Elsener vom Sterbehospiz St. Antonius in Hurden im Gespräch.

mit Schwester Jolenda
sprach Heidi Peruzzo

Gibt es eine spezielle Zeremonie, die Sie an Allerseelen abhalten?

Wir vier Baldegger-Schwestern zünden in unserer Kapelle für alle Verstorbenen des Jahres eine Kerze an und beten für sie.

Was passiert mit der Seele nach dem Tod? 

Die Seele verlässt den kranken Körper und geht ins Licht. Sterbende haben ihre Helfer, welche sie abholen. Die Seele des Menschen ist unberührt und kann von niemandem verletzt werden. Sie gehört nur Gott und geht zu ihm zurück. Das ist meine Vorstellung. 

Wie viele Sterbende haben Sie und ihr Team begleitet?

In den neun Jahren, seit das Hospiz besteht, durften wir 354 Sterbende begleiten. 

Wie lange ist ein Patient durchschnittlich im Hospiz?

21 Tage. Manche nur für eine Nacht, andere bis zu vier Monaten.

Das Hospiz ist die letzte Station. Verändern sich die Menschen, wenn sie dem Tod ins Auge schauen?

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber im Sterbeprozess ist eine grosse Ehrlichkeit, es gibt nichts mehr zu verlieren. Man muss nichts mehr beweisen, es gibt kein Prestige mehr.  

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sterbende zu Ihnen abgeschoben werden?

Nein, das Hospiz ist ein Ort, wo der Gast so sein darf, wie er ist. Viele Angehörige sind irgendwann mit der Pflege überfordert. Es fehlt ihnen die Kraft. Da kann Liebe schnell einmal ins Negative fallen. Bei uns können die Angehörigen nochmals eine schöne letzte Zeit mit ihren Liebsten verbringen. Diese Zeit ist so wertvoll!

Was hindert Personen daran, in Frieden einzuschlafen?

Vielfach sind es Situationen, in denen noch Unfriede in der Familie herrscht. Mit Gesprächen versuche ich, zu schlichten. Manchmal braucht es viel Zeit und Gespür, bis sich alle versöhnt haben und der Sterbende in Frieden einschlafen kann. Wie echt diese Versöhnung ist, kann ich nicht beurteilen.

Ist Ihr psychologisches Geschick
eine Gottesgabe?

Ja, und mir hilft auch mein Beruf als Sozialpädagogin und die lange Erfahrung. Bevor ich jeweils in ein Zimmer gehe, schicke ich meinen Schutzengel voraus und bitte den heiligen Geist, dass er mir die richtigen Worte schenkt und ich helfen kann. Manchmal kommt es mir vor, wie der Sterbende in einer dicken Decke festsitzt. Ich versuche dann, das Ungute zu entfernen und dem Guten Platz zu machen. Das Ungute können Ängste oder Aggressionen sein. 

Haben Ihre Gäste letzte Wünsche, die Sie erfüllen können?

Manche möchten nochmals den Wind im Gesicht spüren oder einem Spaziergang im Rollstuhl über den Holzsteg erleben. Dabei schauen sie ganz bewusst die Silhouette des Schlosses an im Wissen, dass es das letzte Mal sein wird. Ich habe auch schon für einen Raucher, welcher die Zigarette nicht mehr selber halten konnte, diese für ihn angezündet und den ersten Zug genommen. Ein anderer wollte ein letztes Schnäpsli. Ich erinnere mich an eine Frau, welche nochmals schwimmen wollte, obwohl sie schon ganz schwach war. Wir haben sie in eine Schwimmweste gepackt und sie in den See begleitet. 

Erinnern Sie sich an besonders traurige Schicksale?

Dieses Jahr hatten wir eine junge Frau mit Hirntumor, welche einen einjährigen Knaben hatte. Es tat schon weh, wenn man den Kleinen auf der Bettdecke der Mutter herumkrabbeln sah und spürte, wie sie die Kraft verliess. Kurz vor ihrem Tod machte sie Frieden mit ihrem Schicksal. Sie sagte: «Ich kann mein Kind nicht mehr begleiten, aber ich werde im Himmel immer für ihn da sein.» Ich bin immer wieder überrascht, wie unsere Gäste ihr Schicksal annehmen können.

Was können uns Sterbende mit auf den Weg geben?

Ich konnte schon sehr viel lernen. Der Sterbeprozess ist etwas sehr Wichtiges, auch für die Angehörigen. Loslassen und sich öffnen: Und plötzlich ist das Sterben ganz einfach. Je näher sie beim Tod sind, umso unwichtiger wird das «Drumherum». Das Strahlen sie aus in all den kleinen Gesten, die noch möglich sind, zum Beispiel ein Händedruck oder ein Lächeln. 

Was passiert im Augenblick des Todes?

Es ist, wie wenn eine Kerze ausgeblasen wird. Dieser Moment ist ein Geheimnis, es ist ganz still. In all den Jahren habe ich nie etwas Schreckliches erlebt. 

Und nach dem Tod?

Der Körper liegt da wie eine Hülle. Durch die Stille kann man eine Veränderung wahrnehmen. Manchmal sehe ich das sogar: Nach zwei bis drei Stunden verändert sich der Leichnam. Die Gesichter werden noch schöner, sie widerspiegeln einen tiefen Frieden und zeigen, was der Mensch gewesen war. Bevor der tote Körper abgeholt wird, gehe ich gerne nochmals in das Zimmer. Für mich ist wichtig, dass unser Gast eine gute Sterbestunde hatte. Und dass er die Zeit nutzte, die ihm bei uns geschenkt war, so dass seine Seele ins Licht darf und dort in die ewige Vollendung und Fülle. 

Sie gehören einem christlichen Orden an. Wie begegnen Ihnen Personen mit anderem religiösen Hintergrund?

Viele Gäste sind konfessionslos oder zur Kirche ausgetreten. Beim Anblick einer Ordensschwester müssen sie manchmal schon leer schlucken. Ein Gast sagte zu mir: «Ich bin Atheist, ich glaube an nichts.» Im Gespräch erwähnte er aber seine grosse Verbundenheit zur Natur. Er sprach so achtsam und voller Ehrfurcht von seiner Liebe zum Wald und den Tieren. Für mich war er bei dieser Schilderung dem Schöpfer sehr nahe. Kurz vor seinem Tod sagte er zu seiner Frau: «Schwester Jolenda sagte zu mir, Gott kennt mich.» Dass er sich auf dem Sterbebett von Gott berühren liess, war ein wunderschönes Geschenk für mich. Etwas Schöneres konnte er gar nicht sagen. Durch Gespräche mit unseren Gästen spüre ich, egal welchen Glauben sie haben, so viel Wertvolles, was von diesen Menschen gelebt wurde. Unsere Aufgabe ist es, Zeit zu haben und die Menschen da abzuholen, wo sie sind. Das ist etwas Wunderbares!

Haben Sie Ihren Traumberuf gefunden?

Als junge Schwester hätte ich mir das nicht vorstellen können. Jetzt, nach meiner Pensionierung, ist es ein grosses Geschenk. Ich habe die leichteste Aufgabe, ich muss gar nichts, nicht predigen, nicht missionieren, niemanden bekehren. Wichtig ist, dass durch unser Dasein der Gast die göttliche Liebe spüren kann.  

Wie wird das Sterbehospiz finanziert?

Wir haben eine Hospizpauschale von 140 Franken pro Tag plus den Pflegekostenanteil von 23 Franken. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten gemäss Besa-Einstufung und die Gemeinden zahlen einen Teil. Unter dem Strich machen wir Defizit, weil einige Rechnungen nicht bezahlt werden. Das kann sein, weil die Angehörigen das Erbe ausschlagen und Konkurs einleiten. Diesen Teil übernimmt die Stiftung, welche von Spendengeldern getragen wird. 

Was ist Ihre Meinung zu Exit?

Ich persönlich finde es schade, weil der Sterbeprozess sehr wichtig ist. Bei der Geburt wird die Kerze von Gott angezündet und beim Tod von ihm ausgelöscht. Ob die Kerze kurz oder lang brennt, sollten nicht wir bestimmen. Vor dem letzten Weg sollte man keine Angst haben, jeder Sterbende hat Helfer, welche ihn über die Schwelle begleiten. Das sind vielleicht verstorbene Angehörige oder Schutzengel. Wir hatten schon Gäste, die bereits bei Exit angemeldet waren. Es ist aber ganz klar:  Wenn sie sich für diesen Weg entscheiden, müssen sie bei uns gehen. 

Konnten Sie auch schon jemanden von Exit abhalten?

Ja, ein Mann wurde von seinen Söhnen zu uns gebracht, weil sie von ihrer Religion her nicht wollten, dass ihr Vater selbstbestimmt stirbt. Er wollte einfach nicht mitmachen, was er bei der achtjährigen Pflege seiner Frau erlebt hatte. «Sie sei so eine Liebe gewesen», meinte er. Dann ist sie jetzt bestimmt im Licht und wird Sie abholen kommen, sagte ich ihm. Wenn Sie jetzt aber selber Schluss machen und damit den Faden abschneiden, wird das sehr schwierig für Ihre Frau. Der Gast wurde nachdenklich und am Morgen früh löschte sein Schöpfer das Licht aus. Seine Söhne waren der Meinung, dass er wahrscheinlich genau diese Worte hören musste, und waren sehr dankbar.

Kommt jeder Mensch ins Licht?

Ich denke schon, auch wenn der Weg dahin unterschiedlich ist. Aber auch der grösste Sünder wird Helfer haben. Der Weg nach dem Tod geht nämlich weiter, es ist nicht einfach fertig. Vor diesem Weg sollte man keine Angst haben. Dieser Weg ist schön. Man ist eingebunden in die Fülle und die Liebe. Das Ziel ist, bei Gott zu sein.

Glauben Sie an die Wiedergeburt?  

Das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn die Menschen nochmals auf die Welt kommen würden, um etwas besser zu machen, hätten wir da jetzt nicht eine viel bessere Welt? Nein, ich bin da gewesen. Ich muss mich nicht selber erlösen. Inkarnation bedeutet für mich, dass meine Seele einen neuen Körper bekommt und ich im göttlichen Leben bin. Dieser Zustand ist unendlich viel grösser, als unser begrenzter Verstand sich das vorstellen kann.  

Können Sie Sterben erklären?

Sterben kann man nicht erklären, es ist ein Geheimnis. Es ist auch schwierig, darüber zu erzählen. Jedes Sterben ist einzigartig. Als Christen glauben wir, dass Sterben eine Geburt ins neue Leben ist.

Was haben Sie persönlich für ein Verhältnis zum Tod?

Ich lebe sehr gerne, doch freue ich mich auf diesen Moment. Anselm Grün sagt: «Beim Sterben fallen wir nicht in eine Leere, sondern in die Hände Gottes!»

Heidi Peruzzo, Redaktion March24 & Höfe 24