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Auto & Mobil
17.05.2020
06.05.2022 15:33 Uhr

Wie ein Zweitakt-Motörchen die Welt eroberte

Was die alte Tante Junkers Ju-52 unter den Flugzeugen oder der Jeep unter den Geländefahrzeugen, ist der Solex unter den Fahrrädern: eine Ikone, mit französischem Charme. Beliebt bei allen, gefahren von Arbeitern und Studenten, Priestern und Professoren, Bauern und Filmidolen wie Brigitte Bardot, die einen wahren Boom auslöste, aber auch Charles Aznavour, Jacques Tati oder Steve McQueen. (Bild: zvg)
Was die alte Tante Junkers Ju-52 unter den Flugzeugen oder der Jeep unter den Geländefahrzeugen, ist der Solex unter den Fahrrädern: eine Ikone, mit französischem Charme. Beliebt bei allen, gefahren von Arbeitern und Studenten, Priestern und Professoren, Bauern und Filmidolen wie Brigitte Bardot, die einen wahren Boom auslöste, aber auch Charles Aznavour, Jacques Tati oder Steve McQueen. (Bild: zvg) Bild: zvg
Beim heutigen Velo- und E-Bike-Boom geht vergessen, dass der Weg zum selbstfahrenden Velo lang war. Als Sternstunde erwies sich in der Not der Kriegszeit die Erfindung des bis heute beliebten Kult-Zweirades Velosolex. Diese Aschenputtel-Story gilt heute noch als ein Musterbeispiel weitsichtiger Unternehmensstrategie.

Schon 1895 hatte der französische Tüftler René Gillet die Idee, am Vorderrad eines Velos einen Motor zu montieren. Während für andere europäische Techniker Zweitaktmotor und Reibrollenantrieb noch suspekt blieben, sprang in Frankreich der Funke. 1901 entstand hier der Ixion, ein Velo mit Zweitakt-Frontantrieb. Bald wurden auch deutsche Zweiräder damit ausgerüstet (Sigurd) oder in den Komet-Werken in Lizenz gebaut.

Dem Ixion folgte ein gutes Jahrzehnt später, ebenfalls in Frankreich, der Cyclotracteur mit Viertakt-Hilfsmotor; auch er fand im Ausland Verbreitung. Doch der grosse Wurf blieb noch aus.

Not macht erfinderisch

Der Durchbruch für das selbstfahrende Velo erfolgt dann aber – nicht von ungefähr – während des Zweiten Weltkriegs: Zwei Pariser Jungunternehmer, Maurice Goudard und Marcel Mennesson, bauen in ihrer Firma Radialradiatoren, um Busse und Lastwagen zu kühlen und stellen später unter dem Namen Solex Vergaser her.

Dieser Markenname Solex wird später auch auf ihre Fahrradfabrik, ein weiteres Standbein ihres Unternehmens, übertragen. Denn ab 1940 entsteht der Prototyp eines selbstfahrenden Velos mit Zweitakt-Motor, angeflanscht über dem Vorderrad auf einem gewöhnlichen Alcyon-Herrenfahrrad- Rahmen, und ausgerüstet mit 700-mm-Rädern (französisches Patent 1941, US-Patent 1942).

Trotz Kriegssituation handelt man weitsichtig-langfristig: Die ersten 700 Prototypen werden ab 1942 an die Werksarbeiter verteilt, um sie zu testen und zu verbessern. Dieses seriöse Vorgehen zahlt sich aus. Denn es stellt sich beispielsweise heraus, dass die gängigen Fahrrad-Rahmen für den Anbau eines Hilfsmotors im Dauerbetrieb nicht stark genug sind, weshalb man sie durch einen stabileren, «offenen» und zudem damenfreundlichen Schwanenhalsrahmen (Col de Cygne) ersetzt.

1946 erste Velosolex-Serie

Die Solexstory ist Musterbeispiel geschickter Unternehmenstaktik: Man beschränkt sich in der schwierigen Nachkriegszeit – im Sinn eines populär- preiswerten Beförderungsmittels – auf 45 ccm Hubraum, eine Leistung von 0,4 PS bei 2000 U/min und einen Verbrauch von nur einem Liter Treibstoff pro 100 km bei einem Gesamtgewicht von 25 kg und einer Geschwindigkeit von 28 km/h. Denn dies eröffnet dem Solex in Frankreich die Klasse der (damals) zulassungs- und führerscheinfreien Cyclomoteurs.

Der Solex – die velozipede Inkarnation von französischer Lebensart und Pariser Chic. Bild: zvg

1946 startet in der Fabrik in Paris-Courbevoie als zusätzliches Standbein die Erstserie Velosolex 650 mit einer Tagesproduktion von 15 Exemplaren. Der weltumspannende Siegeszug ist eröffnet. Wo Idealismus am Werk ist, wird trotz Erfolg ständig weiter getüftelt und verbessert. So beginnt denn ab 1947 eine lange Reihe immer neu modifizierter Serien, wobei allerdings das bewährte Grundprinzip immer das gleiche bleibt, ebenso die Kult gewordene schwarze Farbe: «Le noir c’est triste, c’est ça qui est drôle.»

Mit jeder neuen Serie erhöht sich die Tagesproduktion rasant: Der Velosolex wird – analog zur Ente von Citroën beim Auto – zum französischen Savoir vivre in Fahrradgestalt.

Export, Lizenz und Imitation

Was Erfolg hat, findet Lizenznehmer und Nachahmer. So schiessen Lizenz-Betriebe ausserhalb Frankreichs wie Pilze aus dem Boden: in den Niederlanden, in Grossbritannien, Polen, Dänemark, Italien, Lettland, Deutschland und der Schweiz. In Zypern, Finnland, Griechenland und Irland werden Montagelinien errichtet. Und ab 1974 gibt es spezielle Export-Modelle unter anderem sogar für Kanada, USA und Brasilien.

Aber auch Konkurrenz taucht auf: 1958 wird im Norden Frankreichs das VéloVap entwickelt, mit mehr Leistung, himmelblauem Rahmen und Weisswandreifen, was raffinierter daherkommt als «das kleine schwarze Solex-Pferd». Im gleichen Jahr folgt, ebenfalls in Nordfrankreich, die Flandria Galet, die mit schwarzer Rahmenfarbe dem Solex ähnlich sieht, aber zudem als farbige Luxusversion für die Benelux-Staaten konzipiert ist.

Das Ende des Solex-Märchens

Doch der gute alte Selbstfahrer Velosolex weiss sich zu behaupten, optimiert sich weiter, bleibt ideenreich: kleinere Räder für mehr Fahrsicherheit, Leistungssteigerung und Erhöhung der Geschwindigkeit auf 30 km/h, Spezialausführungenwie leichte, dreirädrige Lieferwagen-Modelle und mit dem F4 ein Minifahrrad für Kinder mit geräuscherzeugender Kunststoff-Motorattrappe.

Doch jedes Märchen hat ein Ende – auch das der billigsten Motorisierung der Nachkriegszeit. Über 40 Jahre nach der Erstserie in Courbevoie (1946), endet in Saint-Quentin im November 1988 die Original-Velosolex-Produktion in Frankreich. Die letzten hundert Exemplare werden als Modell Nostalgia an Liebhaber verkauft. Wie viele dieser Ikonen gesamthaft gebaut wurden, ist nicht genau bekannt; es sollen weit über sechs (weltweit sogar über acht) Millionen sein.

Vollständiger Artikel in den Printausgaben «March-Anzeiger» und «Höfner Volksblatt» zu lesen. 

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Heini Hofmann